Inge Mandos / Renate Gültzow

Das jüdische Hamburg 1922

Jiddisch in Hamburg

1922 erschien in der 813. Ausgabe der in Warschau herausgegebenen Zeitung 'der yud' folgender Artikel von Salomo Birnbaum:

Das jüdische Hamburg

Hamburg ist eine alte und schöne Stadt. Das Wort 'schön' erübrigt sich, wenn man alt sagt. Denn ich habe noch keine alte Stadt gesehen, die hässlich wäre. Ich weiß nicht, wie das anderswo ist - so jedenfalls ist es in Mitteleuropa. Es ist ganz einfach: früher haben die Menschen mehr gestaltet und weniger industriell gebaut und so sind schöne Dinge entstanden. Hinzu kommt auch die geschichtliche Entwicklung und verleiht allem die Ehre und die Schönheit des Alters. Wenn wir heute eine solche Stadt anschauen und in ihr das Leben und die Seele vieler Generationen spüren, verstärkt das bei uns noch den ästhetischen Eindruck. Und wenn die Stadt dann auch noch in eine schöne Landschaft eingebettet ist, ist es doch gewiss ein göttliches Vergnügen das alles anzuschauen. Nur darauf will ich hier nicht hinaus…

Kurz und gut – Hamburg ist eine schöne Stadt, schön gebaut und in einer reizvollen Landschaft gelegen, mit vielen Flüssen, Teichen und Kanälen, obwohl es bis zum Meer noch sehr weit ist. Aus der Ferne betrachtet könnte man meinen, dass Hamburg direkt am Meer liegt, aber das ist ein Irrtum. Es gibt viele Hamburger, die das Meer noch nie gesehen haben. Ein Fluss, der durch die Stadt führt, heißt Alster. Inmitten der Stadt öffnet er sich und geht in einen hübschen See über. Dort ist die Stadt am schönsten und dort befindet sich auch das beste Viertel von Hamburg mit großen Gärten und prächtigen Villen.

Lokalisierung und Zusammensetzung des Hamburger Judentums

Man begreift, dass hier vermutlich keine 'Hungerleider' leben. Und genau da und im angrenzenden Viertel wohnt der größere Teil der Hamburger Juden. Man versteht schon, dass diese keineswegs darbende und bedürftige Menschen sind.Natürlich wohnen Juden auch in anderen Stadtteilen, z.B. im Zentrum, wo noch die heutige ältere Generation gewohnt hat. Man ist erst in den letzten dreißig Jahren hinaus (an die Alster) gezogen. Außerdem gibt es jetzt noch ein kleines jüdisches Viertel, in dem hauptsächlich die ärmere Schicht wohnt. Die Mittelschicht wohnt am Rande des wohlhabenden Viertels.

Juden sind in Hamburg in der Minderheit, sie machen vielleicht 3 Prozent in dieser Millionenstadt aus und sie treten im Stadtbild kaum in Erscheinung. Nur die vielen Gassen im Viertel der Mittelklasse zeigen ein Stück weit jüdisches Antlitz. Man sieht viele jüdische Gesichter, Schlachterläden mit der Aufschrift 'kosher' und manchmal sogar ein Haus, bei dem die Namen an der Tür fast alle jüdisch sind. Die Gemeinde dort ist in der Tat fast gänzlich orthodox. Und genau da ist das eigentliche Zentrum der Hamburger jüdischen Gemeinde, das Herz der 'yidishkeyt'.

Die Frommen sind hier, genauso wie im ganzen Westen, in der Minderheit, aber in diesem Viertel machen sie, wie ich meine, einen etwas größeren Anteil aus. Besonders charakteristisch für Hamburg ist der große Einfluss, den sie in der Gemeinde haben. Man kann sagen, sie sind dort der wichtigste Pfeiler, meiner Ansicht nach nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch, mit ihrer Arbeit und ihrem Geld.

Eigenheiten der jüdischen Gemeinde in Hamburg

In Hamburg sind die Verhältnisse in der jüdischen Gemeinde anders als im übrigen Deutschland. Überall hat sich der größte Teil der ultra-orthodoxen Juden von der offiziellen Gemeinschaft abgespalten. Sie haben eine 'Austrittsgemeinde' gegründet, damit sie nicht hineingezogen werden in den Abgrund von Häresie und Assimilation, wogegen die offizielle Orthodoxie, wie sie meinen, nichts ausrichten kann.

Nur in Hamburg hat man es anders geregelt. Vor fünfzig Jahre hat man in Hamburg eine gute Lösung gefunden: man hat von den Gemeindeaufgaben den 'Kultus' abgetrennt, d.h. alles, was die Synagoge, das Schächten, die Speisegesetze und das rituelle Bad betrifft. Alle diese Angelegenheiten hat man zwei Organisationen übergeben: einer orthodoxen mit Namen 'Synagogen-Verband' und einer reformierten mit Namen 'Tempel-Verband'. Übrigens dies war der erste 'Tempel' in Deutschland, von ihm hat man den Namen und den Ritus genommen. Bei der ursprünglichen Gemeinde sind Bestattung und Wohltätigkeit verblieben. Zwar haben in dieser orthodoxen Gemeinde die linken Elemente die Führung an sich gerissen, aber in letzter Zeit hat es angefangen, wieder etwas besser zu werden. Es ist interessant, dass sich nur die Synagogen der orthodoxen Organisation offiziell 'Gemeindesynagogen' nennen. Der 'Tempel' macht das nicht und auch um die anderen 'Kultusangelegenheiten' kümmert er sich nicht.

Es versteht sich von selbst, dass in den 'Gemeindesynagogen' bei allem das jüdische Gesetz befolgt wird. Es gibt sogar gewisse Angelegenheiten, die Fremden direkt ins Auge fallen, besonders den Ostjuden. Zum Beispiel die rituellen Kopfbedeckungen und Umhänge des Rabbiners, der Synagogensänger und Synagogendiener. Wenn jemand zum Lesepult geht, z.B. ein Trauernder, muss er auch eine Kopfbedeckung aufsetzen; nur das alles ist ja schon lange in ganz Deutschland eingeführt worden. Noch so etwas: es gibt schwarze kleine Umhänge, welche die Synagogenvorsteher – anders bekannt auch als 'Synagogen-Kommissare' – als Zeichen ihrer Würde um die Schultern tragen. Das hat man von den portugiesischen Juden übernommen. Außerdem: der Gebetsschal des Kantors, den er an Feiertagen trägt, ist auf den Schultern farbenprächtig bestickt.

Aber im Allgemeinen ist der Stil ganz jüdisch, nämlich polnisch-jüdisch, wie man ihn in ganz Nord - und Ostdeutschland findet. In Polen nennt man ihn hingegen 'aschkenasischen Stil'. Hier aber meint 'aschkenasischer Stil' die Tradition der Juden aus Süddeutschland. Die konkrete Durchführung aller Synagogenangelegenheiten ist - versteht sich - ein wenig systematisiert und 'verdeutscht'.

Seite 1 des Artikels, Material zur Verfügung gestellt von seinem Sohn David Birnbaum / Nathan & Solomon Birnbaum Archives, Toronto

Synagogen und Klausen

Die größte Synagoge steht mitten im jüdischen Viertel. Sie wurde vor etwa fünfzehn Jahren erbaut, ist sehr reich ausgestattet und hat ungefähr tausend Sitzplätze für Männer und Frauen. Der gesamte Ritus wird mit großem Pomp durchgeführt. Um das deutlich zu machen, will ich nur zwei, drei Kleinigkeiten aufzeigen: Freitagabend, nach dem Nachmittagsgebet, wenn der Kantor beginnt das Gebet zur Eröffnung des Sabbats zu singen, kommt der Synagogenvorsteher heraus, ein Jude mit einem prächtigen Bart, und von seinen Schultern weht der bewusste Umhang des Würdenträgers. Er geht zu der Ostwand, wo rechts und links vom Torah-Schrein zwei große silberne Sabbat Leuchter stehen. Dort kommt ihm schon eine Art Gemeindediener entgegen, der ihm einen großen Stab mit einer Flamme reicht. Der Synagogenvorsteher zündet die Kerzen an und im gleichen Moment gehen elektrische Lämpchen an und die Synagoge erstrahlt noch heller. Während er danach zur linken Seite geht, läuft ihm schon ein anderer Gemeindediener entgegen und gibt ihm nochmals einen solchen Stab, damit er auch den Leuchter auf der linken Seite anzünden kann... und beim Sabbatsegen, wenn der Sabbat sich dem Ende zuneigt und man die 'Havdala' Zeremonie ausführt, kommt ein Gehilfe und reicht dem Synagogendiener ein silbernes Tablett mit einem Pokal und dieser reicht es an den Kantor weiter und auf diesem Wege auch wieder zurück. Oder: von Rosch ha-Schana (jüdischer Neujahrstag) bis Jom Kippur (Versöhnungstag) sind alle Sitzplätze mit weißem Leinenstoff bezogen und es sieht wirklich festlich aus.

Hier in der Synagoge betet ein großer Teil der orthodoxen Hamburger Juden – ungefähr die Hälfte, würde ich sagen. Zwar kommen in der Woche nicht mehr als zwei oder drei 'Minjan' (Minjan = Mindestanzahl von 10 Betern für einen jüdischen Gottesdienst), aber am Sabbat beim ersten und zweiten Gebet wird es in der Synagoge schon sehr voll. Am Feiertag oder gar an den 'zehn ehrfurchtsvollen Tagen' (Tage zwischen Neujahrstag und Versöhnungstag) ist die Synagoge vollbesetzt und es fehlen sogar Sitzplätze. Außer dieser Synagoge gibt es noch verschiedene kleinere Synagogen und Betstuben. Man nennt sie hier 'Bruderschaft' (Klaus), eine Art deutsches Lehrhaus. Die zwei größten der hiesigen 'Bruderschaften' haben ihre eigenen Rabbiner, die sich 'kloyzner' (= Klaus-Rabbiner) nennen.

religiöse und weltliche Bildung

Man sieht also, in Hamburg gibt es Orte, wo man jiddische Worte hören kann – und man hört sie wirklich. Es gibt hier Talmudstudien ohne Ende. Der Rabbi und die Klaus-Rabbiner geben öffentliche Talmud-Lektionen. Es gibt eine Gruppe von jungen Menschen, 'Quelle des Lebens', nur mit dem Ziel zu lernen. Es gibt hier eine Vereinigung für Talmudstudien; außerdem setzt man sich einfach so zuhause zusammen und lernt – Hausherren und junge Leute, Kaufleute und Studenten, auch Kinder. Die Lust zum Lernen ist heutzutage sehr groß. Es ist hier nicht der Ort und auch nicht meine Sache über die Lehrmethoden und deren Erfolg zu urteilen. Es ist besonders wichtig zu sehen, dass die ehemalige Philosophie des Westens in Bezug auf 'Torah und weltliche Bildung', in Wirklichkeit bedeutete: wenig Torah und viel fremde Kultur, wenig Torah, aber Assimilation in vollen Zügen, und dass diese Haltung schließlich ihren Einfluss ein wenig eingebüßt hat und an ihre Stelle der alte jüdische Durst nach der Torah getreten ist.

In Hamburg gibt es eine jüdische Realschule, die man nach dem Prinzip 'Torah und weltliche Bildung' errichtet hat. Es versteht sich, dass die Tatsache, dass hunderte jüdische Kinder, mehrheitlich aus frommem Hause, am gleichen Platz und in derselben Schule sitzen, wie schon ihre Väter, schon eine gewisse jüdische Umgebung schafft, auch wenn man viel Zeit für weltliche Bildung aufwendet und nur ganz wenig für die Torah. Aber die alten Programme helfen gar nichts gegenüber den lebendigen Tatsachen. Es beginnen in der jungen Generation die alten jüdischen Gefühle zu erwachen. Die Atmosphäre in der Schule selbst beginnt sich zu ändern und es gibt junge Menschen, die klar und deutlich sagen: 'was nützt mir all dieses Wissen, ich will die Torah studieren.'

Heutzutage ist es keine ungewöhnliche Sache, dass man einen Sohn auf eine Talmudschule z.B. nach Ungarn schickt. Und im letzten Jahr, haben diejenigen, die die Torah suchen, das große Los gezogen: Man muss niemanden mehr fortschicken – eine Talmudschule ist selbst nach Hamburg gekommen. D.h. man hat eine Talmudschule eröffnet, etliche Kurse für hiesige junge Leute eingeführt, die den Talmud noch nicht so gut kennen und einen Teil für Fortgeschrittene, die eigentliche Talmudschule, in der einige junge Männer aus Polen und Litauen studieren können. Der Leiter der Talmudschule ist ein litauischer Talmudgelehrter, ein großer Gelehrter (*vermutlich meint Birnbaum hier Samuel Josef Rabinow – 'das Licht des Ostens').

Seite 2 des Artikels, Material zur Verfügung gestellt von seinem Sohn David Birnbaum / Nathan & Solomon Birnbaum Archives, Toronto