Marcel Seidel

Lemberg

Jiddisch in der Welt

Vor dem Besuch der armenischen Kirche in Lviv war mir nicht klar gewesen, dass die armenische Kirche genauso wie die orthodoxe Kirche Galiziens sich vor mehreren Jahrhunderten dem Papst unterstellt hatten, wir uns also sozusagen in einer armenisch-katholischen Kirche befanden. Auch wenn hier heute niemand sang, so wirkte der Zauber dieses Ortes weiter durch die Wandmalereien des Jan Henryk Rosen, insbesondere die Grablegung des heiligen Odilo von Cluny und den Kopf Johannes des Täufers auf dem Silbertablett. Wird Letzterer anscheinend von einer leuchtenden Aura anstelle des abgeschlagenen Haupts in die Höhe gehoben, so sind es bei ersterem die Geister bzw. die Seelen der Toten, die seinen Sarg tragen, denen man sich nicht entziehen kann.

Grablegung des heiligen Odilo von Cluny gemalt von Jan Henryk Rosen

An der Stadtmauer, links von uns der Grundriss einer Synagoge, wurde vor deren einzig erhalten gebliebener Wand ein Mahnmal aus grabsteinähnlichen Tafeln aufgestellt. Jede von ihnen ist beidseitig beschriftet und zeigt in Originalsprache, sowie in englischer, hebräischer und ukrainischer Übersetzung Stimmen jener, die einst mit Lemberg verbunden waren, jüdische Stimmen in einem beinah babylonischen Sprachgewirr: vier darunter auf Jiddisch – Debora Vogel (eine Freundin von Bruno Schulz), Alexander Lisen (ein alter Freund unserer Gesellschaft), Moyshe Shimel und Israel Ashendorf.

verbliebene Außenwand der Goldenen Rose (Synagoge in der Nähe der Stadtmauer)

Von Moyshe Shimel, einem hiesigen sowohl polnischen als auch jiddischen Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker und Publizisten, der 1942 hier in Lemberg im Lager von Janowska ums Leben gekommen ist, hatte ich vor der Reise noch gar nicht gehört. Er begegnet mir noch ein zweites Mal in der Nähe des Ghetto-Mahnmals im Rahmen einer Ausstellung mit äußerst eigenwilligem Konzept: Hier werden auf zahlreichen Tafeln unter freiem Himmel Ereignisse aus dem Lemberg des 2. Weltkriegs mit den Biographien von Opfern, Rettern und Tätern vermischt.

Ghetto-Mahnmal in Lemberg

Besonders aussagekräftig in Bezug auf die von der Sowjetunion eingenommenen Gebiete fand ich die tragische Geschichte des jüdischen Museums in Lemberg, welches erst 1934 eröffnet und dann bereits 1939 von den Sowjets wieder geschlossen wurde und auf deren Anordnung hin im Museum für Kunsthandwerk aufgegangen war. Als dann die Deutschen eintrafen, sollte die Sammlung nach Theresienstadt abtransportiert werden und mit Glück konnten einige der Objekte vor ihnen versteckt und so gerettet werden. Doch 1948 fielen diese wiederum den Sowjets in die Hände, die dieses Mal ihre Zerstörung verlangten. Der Direktor des Museums für Kunsthandwerk hat offiziell bestätigt, den Befehl ausgeführt zu haben, hat die Objekte in Wirklichkeit aber erneut versteckt. An solchen Geschichten wird nachvollziehbar, dass auch das Ende des Krieges kein Aufatmen bedeutete…