Prof. Dr. Rainer Nicolaysen

Leben und Wirken Salomo Birnbaums

Jiddisch in Hamburg

Quelle des nachfolgenden Textes: Hamburgische Biografie, hg. von Franklin Kopitzsch und Dirk Brietzke, Bd. 8, Göttingen 2023, S. 59-62 von Prof. Dr. Rainer Nicolaysen.

Zum Hören und Sehen über die Initiative Lecture2go der Universität Hamburg: Salomo Birnbaum und die Begründung der Jiddistik an der Hamburger Universität vor genau 100 Jahren - Vortrag von Prof. Dr. Rainer Nicolaysen vom 15.9.2022

Zum Lesen:

BIRNBAUM, Salomo A(scher), im englischsprachigen Kontext Solomon A(sher), geb. 24.12.1891 Wien, gest. 28.12.1989 Toronto; isr.; Jiddist, Paläograf.

Als Pionier auf den Gebieten der historischen jiddischen Sprachwissenschaft und der Paläografie des Hebräischen hat Salomo Birnbaum im 20. Jahrhundert Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Die Jiddisch-Seminare, die er von 1922 bis zu seiner Vertreibung 1933 an der Hamburgischen Universität anbot, markieren zudem den Beginn der Jiddistik als akademischer Disziplin.

Jugend und Beginn der wissenschaftlichen Veröffentlichungen

Salomo Birnbaum wurde 1891 als ältester Sohn des Schriftstellers und jüdischen Denkers Nathan Birnbaum (1864-1937) und seiner Ehefrau Rosa Birnbaum, geborene Korngut (1869-1934), in Wien geboren. Viele seiner Vorfahren waren Rabbiner in Polen, Galizien und Ungarn und damit Jiddisch-Sprecher gewesen. Salomo Birnbaum hingegen wuchs wie sein Vater in Wien mit Deutsch als Muttersprache auf, begann aber schon als Gymnasiast, sich intensiv mit dem Jiddischen zu beschäftigen. Bereits als 15-Jähriger veröffentlichte er 1907 die von ihm ins Deutsche übertragene Erzählung »Durchgesetzt« von David Pinski in der »Neuen Zeitung« in Wien. Ein Jahr später nahm er an der vom Vater initiierten Czernowitzer Konferenz teil, die als Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der jiddischen Sprache gilt. Nachdem er die letzten beiden Schuljahre in Czernowitz absolviert hatte, legte Birnbaum dort 1910 das Abitur ab und studierte anschließend bis 1912 Architekrur an der Technischen Hochschule Wien. Dem folgten nach eigenen Angaben private Studien in Berlin, zu deren Ergebnissen die Serie »Jiddische Dichtung« zählt - Texte, die Birnbaum 1913/14 wissenschaftlich transkribiert und übersetzt in der von Fritz Mordechai Kaufmann herausgegebenen Zeitschrift »Die Freistatt« veröffentlichte. Im Frühjahr 1915 schloss der 23-jährige seine erste größere wissenschaftliche Arbeit ab, die kriegsbedingt erst 1918 erscheinen konnte: die »Praktische Grammatik der jiddischen Sprache für den Selbstunterricht, mit Lesestücken und einem Wörterbuch«. Diese erste zusammenhängende wissenschaftliche Grammatik des Jiddischen, die später in mehreren ergänzten Auflagen und zuletzt 2011 als Nachdruck erschien, erwies sich als wissenschaftsgeschichtlicher Meilenstein.

Kriegsdienst, Studium, Promotion, Lehre in Hamburg, Familiengründung

Den Ersten Weltkrieg erlebte Birnbaum von 1915 an in der österreichisch-ungarischen Armee, die er bei Kriegsende als Leutnant verließ. Dem dreieinhalbjährigen Kriegsdienst folgte ein Studium der Orientalistik an den Universitäten Wien, Zürich, Berlin und Würzburg, wo Birnbaum 1921 bei dem Altorientalisten Maximilian Streck mit einer Arbeit über »Das hebräische und aramäische Element in der jiddischen Sprache« promoviert wurde. Seine Dissertation hatte Birnbaum schon im Herbst 1918 als Verwundeter im Lazarett, mithin vor Aufnahme des Studiums, niedergeschrieben. Sie wurde 1922 publiziert und erlebte 1986 einen unveränderten Nachdruck. Nach der Promotion wechselte Birnbaum nach Hamburg, wo er von 1921 bis 1923 als Sekretär des orthodoxen Deutsch-Israelitischen Synagogenverbandes und von 1924 bis 1933 als Lehrer an der Keren Hatorah-Schule tätig war. Im Jahr 1925 heiratete er die in Wien geborene, seit frühester Kindheit mit ihrer Familie in London ansässige Irene Rikl Grünwald (1899-1988), die fortan kontinuierlich an seinen Forschungen beteiligt war. Die Kinder des Ehepaares wurden 1926, 1928 und 1929 in Hamburg geboren, ein viertes nach der Emigration 1933 in London.

Salomo Birnbaum um 1930 mit Ehefrau Irene Rikl Grünwald, seinen Eltern und den ältesten 3 Kindern, Photo zur Verfügung gestellt von seinem Sohn David Birnbaum / Nathan & Solomon Birnbaum Archives, Toronto

Jiddisch im Allgemeinen Vorlesungswesen der Universität Hamburg

Zusätzlich zu seiner festen Anstellung und einer intensiv fortgesetzten Forschungs- und Publikationstätigkeit unterrichtete Birnbaum vom Wintersemester 1922/23 an Jiddisch im Allgemeinen Vorlesungswesen der Hamburgischen Universität. Der entsprechende Lehrauftrag war durch Vermittlung des Germanisten Conrad Borchling zustande gekommen und bedeutete nach Birnbaums eigenen Worten den »Eintritt der jiddischen Sprachwissenschaft in die moderne akademische Welt«. In 21 Semestern führte der Jiddist insgesamt 34 Veranstaltungen durch, die sowoht Sprachkurse als auch Übungen zur jiddischen Literatur umfassten und abgesehen von einer kleinen Gruppe interessierter, zumeist jüdischer Studierender mehrfach auch von dem befreundeten Germanisten Heinrich Meyer-Benfey belegt wurden.

Ablehnung und Antisemitismus bei den Habilitationsvorhaben an der Universität Hamburg

Indessen wurde der Plan, sich in Hamburg zu habilitieren, zweimal, 1926/27 und erneut 1929/30, vereitelt. Antisemitische Ressentiments gegenüber Person und Fach waren dafür ausschlaggebend. Beim ersten Versuch beantragte Birnbaum mit seiner Untersuchung »Die moderne hebräische Poesie. Form und Inhalt« die Habilitation für »Kultur und Sprachen der Juden«, die die erste ihrer Art an einer deutschen Universität gewesen wäre. Obwohl die von der Philosophischen Fakultät eingesetzte Habilitationskommission, der u.a. Ernst Cassirer angehörte, zu einem positiven Votum kam, wurden zusätzliche Gutachter bestellt, die dem Gesuch Birnbaums kritisch oder wie der Islamwissenschaftler Rudolf Strothmann offen ablehnend gegenüberstanden und das Verfahren zum Scheitern brachten. Auch Birnbaums umfangreiche zweite Habilitationsschrift, die er Anfang 1929 unter dem Titel »Die nordjüdischen Kursivschriften (eine Studie zur hebräischen Buchstabengeschichte)« einreichte, stieß in der Fakultät neben großer Wertschätzung auf dezidierte Ablehnung.Jetzt war es insbesondere Birnbaums österreichischer Landsmann, der seit 1926 in Hamburg Vergleichende Sprachwissenschaft lehrende Indogermanist und Iranist Hans Reichelt, der die Habilitation zu Fall brachte. Reichelt sollte sich bald darauf als Nationalsozialist exponieren und nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 Rektor der Universität Graz werden. Aus Birnbaums zurückgewiesener Studie ging später sein zweibändiges, 1954/57 und 1971 erschienenes Opus magnum »The Hebrew Scripts« hervor - ein Standardwerk auf dem Gebiet Hebräischer Paläografie bis heute.

Institutum Germano-Judaicum

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten floh Salomo Birnbaum Anfang Mai 1933 aus Hamburg und ließ sich mit seiner Familie in London nieder. Kurz zuvor hatte er noch Pläne zur Gründung eines Institutum Germano-Judaicum verfolgt, in dem jiddische Sprachforschung und andere aschkenasische Studien betrieben werden sollten. Einen entsprechenden Aufruf hatte er im Januar 1933 an mehr als 150 nichtjüdische Germanisten, Linguisten, Hebraisten und Alttestamentler in den deutschsprachigen Ländern versandt und bis April 1933 60 Antworten von Kollegen erhalten, die bereit waren, sein Vorhaben namentlich zu unterstützen. Auch dieses Projekt wurde durch die Vertreibung abgebrochen; seinen Lehrauftrag an der Hamburgischen Universität hatte Birnbaum im Sommersemester 1933 als Jude ebenfalls verloren.

Exil in London, weitere wissenschaftliche Laufbahn, Auswanderung nach Toronto, Birnbaum-Archiv

In Großbritannien war es nicht leicht, beruflich Fuß zu fassen. Von 1936 bis 1957 lehrte Birnbaum dann mit zunächst bescheidenem Gehalt vor allem Hebräische Paläografie an der School of Oriental and African Studies der University of London sowie parallel jiddische Sprachwissenschaft an der dortigen School of Slavonic and East European Studies. Internationale Beachtung fand der Gelehrte, als er die ab 1947 entdeckten antiken Schriftrollen vom Toten Meer, die Qumran-Handschriften, aufgrund seiner paläografischen Expertise für echt befand und ihr Alter zu bestimmen vermochte. Im Jahr 1970 zogen Salomo und Irene Birnbaum samt Sohn David und seiner Familie schließlich nach Toronto, wo ihr Sohn Eleazar lebte und wo Birnbaum ab 1976 am Maimonides College eine Honorarprofessur wahrnahm. Seine wissenschaftliche Arbeit setzte Salomo Birnbaum bis zu seinem Tod im Alter von 98 Jahren fort. Ausdruck dieses langen Gelehrtenlebens sind neben dem ungemein umfangreichen Werk die Sammlungen der von ihm selbst eingerichteten Nathan & Solomon Birnbaum Archives in Toronto, in denen sich auch etwa 30 ooo Briefe von und an Salomo Birnbaum zu linguistischen paläografischen und allgemein judaistischen Themen befinden.

Walter Röll und Salomo Birnbaum

Nach Hamburg ist Birnbaum nie mehr zurückgekehrt, und Kontakt zur Universität Hamburg gab es erst wieder, als ein Vertreter der jüngeren Generation, der 27-jährige Assistent der Germanistik Walter Röll, 1964 mit Birnbaum in Verbindung trat, nachdem er auf dessen Jiddisch-Grammatik und die Traditionslinie des Jiddischen an der eigenen Universität gestoßen war. Im engen Austausch mit Birnbaum begründeten Röll und einige Mitstreiter im Wintersemester 1964/65 eine Arbeitsgemeinschaft für Jiddisch und damit zum zweiten Mal eine Keimzelle dieses Faches an der Hamburger Universität. Die Verbindung zu Birnbaum riss auch nicht ab, als Röll 1970 eine Professur für Ältere Deutsche Philologie an der Universität Trier erhielt, wo die Jiddistik dann dank seines anhaltenden Engagements 1985/86 als eigene Fachrichtung etabliert und 1990 die erste Jiddistik-Professur in Deutschland eingerichtet wurde.

Ehrendoktorwürde: verwehrt in Hamburg, anerkannt in Trier

Ebenfalls von Röll und seinem Jiddistik-Kreis ging Mitte der 198oer Jahre die Initiative aus, Birnbaum die Ehrendoktorwürde zu verleihen, wobei die Hamburger Universität in besonderer Verantwortung stand. Obwohl Peter Freimark als Direktor des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden, in dessen Kuratorium Birnbaum Ehrenmitglied war, die Angelegenheit engagiert in die Hand nahm, scheiterte die geplante Ehrenpromotion Ende 1985 im zuständigen Fachbereich Orientalistik der Universität Hamburg. Diesmal torpedierte der Orientalist, Äthiopist und Theologe Ernst Hammerschmidt eine Würdigung Birnbaums und setzte sich damit im Fachbereichsrat, in dem er durchaus kein Vetorecht besaß, durch. Angesichts dieses schändlichen Scheiterns in Hamburg übernahmen Walter Röll, Erika Timm und Hans Peter Althaus die Initiative in Trier, wo der Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft Salomo Birnbaum als international anerkannten Nestor der Jiddistik am 4. Juni 1986 die Ehrendoktorwürde verlieh. Der 94-Jährige nahm die Ehrung persönlich entgegen und betrat aus diesem Anlass - abgesehen von einer kurzen Durchfahrt Anfang der 196oer Jahre - erstmals nach seiner Vertreibung wieder deutschen Boden.

Birnbaums Erbe in Hamburg: die Gesellschaft und die Bibliothek

Wenige Jahre nach Birnbaums Tod wurde 1995 in Hamburg die Salomo-Birnbaum-Gesellschaft für Jiddisch e. V. mit dem Ziel gegründet, die Beschäftigung mit jiddischer Sprache und Kultur zu fördern. Die von ihr aufgebaute Jiddisch-Bibliothek wurde 2019 mit der seit 1986 entstandenen Salomo-Birnbaum-Bibliothek des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden unter ebendiesem Namen zusammengeführt und in der Rothenbaumchaussee 34 feierlich eröffnet. Als die Universität Hamburg zwei Jahre später diese Räumlichkeiten überraschend nicht mehr zur Verfügung stellte, musste die Bibliothek wieder getrennt und in Kartons verpackt notdürftig in Kellerräumen untergestellt werden. Im September 2022 würdigten die Universität Hamburg und die Salomo-Birnbaum-Gesellschaft in einer gemeinsamen Festveranstaltung Birnbaums Begründung der Jiddistik in Hamburg 100 Jahre zuvor. Auch eine dauerhafte Lösung für die obdachlose Salomo-Birnbaum-Bibliothek soll nun gefunden werden.

(Anmerkung der Redaktion im Januar 2024: Der Bücherbestand der Salomo-Birnbaum-Gesellschaft für Jiddisch e. V. ist inzwischen durch einen Vertrag über eine Dauerleihgabe an die Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky gegangen, allerdings unabhängig vom Bücherbestand des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden.)

Werke

Schriftenverzeichnis: Ein Leben für die Wissenschaft / A Lifetime of Achievement. Wissenschaftliche Aufsätze aus sechs Jahrzehnten von / Six Decades of Scholarly Articles by Salomo / Solomon A. Birnbaum, hg. von Erika Timm in Zusammenarbeit mit Eleazar Birnbaum und David Birnbaum, 2 Bde., Berlin/Boston 2011, Bd.1, S. XXIX-XLVIII; Praktische Grammatik der jiddischen Sprache für den Selbstunterricht, mit Lesestücken und einem Wörterbuch, Wien/Leipzig 1918; Das hebräische und aramäische Element in der jiddischen Sprache, Leipzig 1922; The Hebrew Scripts, Bd. 2: The Plates, London 1954-57, Bd. 1: The Text, Leiden 1971; Die jiddische Sprache. Ein kurzer Überblick und Texte aus acht Jahrhunderten, Hamburg 1974; Yiddish. A Survey and a Grammar, Toronto 1979.

Literatur

BHdE 2; DBE (2. Ausgabe); JH; Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, hg. vom Archiv Bibliographia Judaica, Bd. 3, München 1995, S. 35-40; Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft 18. bis 20.Jahrhundert, hg. von der Österreichischen Nationalbibliothek, 3 Bde., München 2002, Bd.1, S.126; Internationales Germanistenlexikon 1800-1950, hg. von Christoph König, 3 Bde., Berlin/ New York 2003, Bd.1, S.190-192; Encyclopaedia Judaica, 2. Aufl., hg. von Michael Berenbaum und Fred Skolnik, Detroit u. a. 2007, Bd. 3, S. 716; Utz Maas, Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933-1945, 2 Bde., Tübingen 2010, Bd. 1, S. 76-78; Verleihung der Würde eines Ehrendoktors der Universität Trier an Professor Dr. Salomo A. Birnbaum, 4. Juni 1986, hg. vom Dekan des Fachbereichs Sprach- und Literaturwissenschaft Walter Röll im Auftrag des Präsidenten der Universität Trier, Trier 1986; Walter Röll/Erika Timm, In memoriam Salomo Birnbaum, in: Jiddistik-Mitteilungen, Nr. 3 (April 1990), S. 16-22; Peter Freimark, Juden an der Hamburger Universität, in: Hochschulalltag im »Dritten Reich«. Die Hamburger Universität 1933-1945, hg. von Eckart Krause, Ludwig Huber und Holger Fischer, 3 Teile, Berlin/Hamburg 1991 (Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 3) , Teil 1, S. 125-147, hier S. 129-133.